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EXPERTEN-INTERVIEW

Warum verunfallen so viele Dachdecker und Zimmerer auf Baustellen? Was sind die häufigsten Unfallursachen? Und wie lässt sich die Zahl der Unfälle reduzieren?

Im Interview erläutern Agnes Kelm, Leiterin des aktuellen Forschungsprojekts "Arbeitsschutz - Building Information Modeling" an der Bergischen Universität Wuppertal, und Veronika Jakl, Projektleiterin Arbeitspsychologie Jakl, mit welchen Methoden das Unfallgeschehen am Bau gesenkt werden kann.

Frau Jakl, ein Zimmerer- oder Dachdeckerbetrieb erhält einen Auftrag für eine Baustelle und kommt mit der Bitte einer Gefährdungsbeurteilung auf Sie zu. Wie gehen Sie in einem solchen Fall vor? Welche Empfehlungen geben Sie als Arbeitspsychologin?

Jakl: Ich würde mich zunächst mit dem Auftraggeber zusammensetzen und mir den Aufbau der Firma erklären lassen. Wie viele Mitarbeiter arbeiten dort? Wie ist die Aufgabenverteilung? Gibt es Vorarbeiter oder Meister? Dann bespricht man gemeinsam, welche Form der Analyse am besten geeignet ist. Gerade in kleinen Betrieben sind meistens Gespräche vor Ort oder moderierte Gruppendiskussionen mit den Mitarbeitern am praktischsten. So kann ich mit ihnen vertraulich über die vorhandenen Stressfaktoren sprechen und mir vielleicht auch Abläufe zeigen lassen. Anschließend bespreche ich die Ergebnisse mit den Führungskräften bzw. dem Auftraggeber und gebe Empfehlungen ab, was man gegen die vorhandenen Stressfaktoren machen kann. Dann wird gemeinsam besprochen, was umsetzbar ist.

Frau Kelm, auch Sie kümmern sich bei Ihrem Forschungsprojekt "Arbeitsschutz - Building Information Modeling" um das Thema Gefährdungsbeurteilung. Welches Ziel verfolgen Sie?

Kelm: Primäres Ziel ist es, arbeitsschutzrelevante Informationen zu identifizieren, zu definieren, zu standardisieren. Hierfür schauen wir uns sämtliche Prozesse entlang des Gebäudelebenszyklus an, die Auswirkungen auf den Arbeitsschutz haben: von den Gefährdungsfaktoren über den SiGe-Plan bis hin zur Arbeitsvorbereitung.
Dank der Methode Building Information Modeling (BIM) haben wir die Möglichkeit einerseits arbeitsschutzrelevante Prozessdaten jederzeit den Dachdeckern und Zimmerern zur Verfügung zu stellen und andererseits ständig automatisch zu aktualisieren, sofern sich Rahmendaten verändern. Sollten sich beispielsweise Arbeiten auf einer Baustelle verzögern, werden andere beteiligte Gewerke umgehend informiert, eventuelle Anpassungen beim Arbeitsschutz vorzunehmen. Diese Informationen unterstützen den  präventiven Arbeitsschutz bereits in der Bauausführungsphase.

Und dies soll digital erfolgen. Welche Technologie setzen Sie für die Prototypen-Umsetzung ein?

Kelm: Wir entwickeln eine App, die jedem Beteiligten auf der Baustelle die notwendigen Informationen auf einen Blick liefern soll. Konkret wollen wir den Dienstleister im Rahmen seiner Arbeitsvorbereitung bei folgenden Fragen unterstützen: Wie sieht der Einsatz-Ort im Ganzen aus? Wie komme ich zum Wartungsobjekt? Welche Gefahren befinden sich auf dem Weg dahin? Welche PSA und weiteren Hilfsmittel benötige ich für die Durchführung der Tätigkeit?
Vor Ort soll der Dienstleister mit weiteren Informationen, wie Anzeige der Wegbeschreibung, des Auftrags, der Datenblätter und der Erfahrungen aus den vorgelagerten Prozessen sowie Hinweise auf aktuelle Gefährdungen unterstützt werden. Diese vollautomatisierten und tagesaktuellen Daten kann jeder auf dem Tablet einsehen und erkennen, wie auf Gefahrenquelle reagiert werden kann. Des Weiteren setzen wir auf Augmented Reality. Mit dem Hololens-Verfahren erhält der Mitarbeiter alle relevanten Daten direkt in das Sichtfeld projiziert. Anders als beim Laptop oder Tablet bleiben die Hände frei.

Was benötigen Sie hier für Daten?

Kelm: Das Wichtigste ist, dass wir vom Bauherrn ein Gebäudedatenmodell erhalten, das neben der reinen Geometrie auch alle für die Arbeitsschutz-Prozesse relevanten Informationen enthält. Des Weiteren benötigen wir während der Nutzungsphase ständige Updates über das Gebäude vom Betreiber.

Warum sind im Bauhandwerk die psychischen Belastungen höher als in anderen Berufszweigen?

Jakl: Die Ergebnisse der Europäischen Befragung zu Arbeitsbedingungen (EWCS 2015) zeigen, dass das Arbeiten unter Termindruck, das hohe Arbeitstempo, das mangelnde Anerkennen oder die Konfrontation mit negativem Sozialverhalten die Befragten aus Deutschland im Sektor "Bau und Verkehr" im Vergleich zu anderen Branchen am stärksten betreffen. Auch ortsveränderliche Arbeitsplätze, lange Arbeitstage, die höhere Unfallgefahr, anstrengende Sommerhitze, Lautstärke sind Faktoren im Bauhandwerk, die die Psyche belasten.

Doch auch die präventive Gefährdungsbeurteilung, egal ob dies durch Spezialisten oder in naher Zukunft via App geschieht, ist keine Garantie, Unfälle zu vermeiden. Wie unterstützen Sie Betriebe nach einem Unfall? Welche Rädchen müssen da ineinander greifen, um beispielsweise Verunfallten bzw. Arbeitskollegen schnellstmöglich die beste Unterstützung zu gewähren?

Jakl: Neben der medizinischen Versorgung von Verunfallten ist auch die Reaktion der Psyche wichtig zu beachten. Es geht einerseits um den Verunfallten selbst, der vielleicht Flashbacks vom Unfall hat oder später Angst entwickelt bei bestimmten Tätigkeiten wie Arbeiten in großen Höhen nach einem Absturz. Und es geht auch um die Zeugen des Unfalls, die ebenso geschockt und sogar traumatisiert sein können.

Kriseninterventionsteams leisten hier psychologische Erste Hilfe. Sie werden häufig direkt durch die Einsatzkräfte, Polizei, Rettung, Feuerwehr alarmiert. Sie unterstützen in den ersten Stunden bei der Realisierung und der Verarbeitung des Geschehenen. Es werden dann soziale Netze aktiviert und an weitere Hilfestellen vermittelt. Das reduziert das Risiko einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Als Arbeitspsychologin geht es mir um die spätere Bearbeitung im Betrieb: Welche Faktoren haben zum Unfall geführt? Was muss verändert werden, damit das in Zukunft nicht nochmals passiert? Manchmal geht es auch um den Aufbau einer Fehlerkultur, weg von einer Schuldkultur nach solchen Ereignissen. Oder um das Hinterfragen von Routinen ("Das haben wir immer schon so gemacht."). Ein Unfall oder ein Vorfall ist nie nur auf eine Ursache zurückzuführen.

MAG. VERONIKA JAKL

Mag. Veronika Jakl ist Personalpsychologin sowie Arbeits- und Organisationspsychologin. Sie ist u. a. spezialisiert auf Evaluierungen psychischer Belastungen in der Industrie und in der öffentlichen Verwaltung. Sie ist außerdem Vorstandsvorsitzende des Fachforums für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie (FAOW).

Agnes Kelm M.Sc.

Agnes Kelm ist die Leiterin des aktuellen Forschungsprojekts "Arbeitsschutz - Building Information Modeling" an der Bergischen Universität Wuppertal, Lehr- und Forschungsgebiet Baubetrieb und Bauwirtschaft.

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